„Rechenschwache Schüler werden durch die Schule erzeugt“

„Rechenschwache Schüler werden durch die Schule erzeugt“

Im Gespräch mit der SZ begründet der Puchheimer Bildungsforscher Bernhard Ufholz, weshalb er Dyskalkulie nicht für eine Behinderung, sondern für die Folge eines unzureichenden Mathematikunterrichts hält.

INTERVIEW: ANDREAS OSTERMEIER

Bernhard Ufholz ist Bildungssoziologe. Auf das Thema Rechenschwäche/Dyskalkulie ist er gestoßen, weil die Tochter von Freunden große Schwierigkeiten in Mathematik bekam. Der 69 Jahre alte Puchheimer hat bereits mehrere Veröffentlichungen zu dem Thema verfasst. Er ist freier Mitarbeiter am mathematischen Institut in München und hält Vorträge.

SZ: Herr Ufholz, Sie befassen sich mit Mathematik und Rechnen. Wie waren Sie als Schüler in Mathe?

Bernhard Ufholz: Ich habe immer zu den Besseren gehört. In der Realschule habe ich den mathematisch-technischen Zweig belegt. Nach der Realschule konnte ich in die elfte Klasse eines mathematischen Gymnasiums wechseln.

Auf ihren Mathe-Unterricht blicken viele Erwachsene mit unguten Gefühlen zurück. Warum ist das Fach so wenig beliebt?

Wir Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, in Quantitäten zu denken. Darauf nimmt die Schule aber keine Rücksicht. Sie hat ihren Stoff, und der geht weiter, auch wenn Schüler etwas nicht verstanden haben. Außerdem soll Schule aussortieren. Es ist also gewollt, dass nicht alle alles verstehen.

Sie sind aber der Meinung, Rechnen kann jeder lernen.

Ja. Die Rechenschwäche ist hauptsächlich die Folge eines unzureichenden Unterrichts. Schauen wir in die TIMSS-Studie. Nach den Zahlen aus dem Jahr 2019 erreichen in Deutschland 4,4 Prozent der Viertklässler nur die unterste Kompetenzstufe im Rechnen. In Singapur (0,8 Prozent) oder Hongkong (0,3) liegt dieser Anteil aber bei unter einem Prozent, in Österreich (1,7) und Russland (1,3) bei unter zwei Prozent. Da frage ich mich: Schummeln die alle bei der Studie? Oder lernen die Kinder dort einfach besser zu rechnen?

Was schließen Sie aus den Zahlen?

Die Zahlen sprechen gegen die Erklärung, dass Rechenschwäche ein genetischer Defekt oder eine Behinderung ist. Wäre sie genetisch bedingt, dann müssten die Anteile rechenschwacher Kinder überall ungefähr gleich groß sein. Sie sind aber sehr unterschiedlich. Rechenschwache Kinder haben besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens, aber sie sind nicht grundsätzlich daran gehindert.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von zwei Paradigmen.

Ja, vom Behinderungs- und vom Verstehens-Paradigma. Anhänger des Behinderungs-Paradigmas sehen in der Dyskalkulie eine Art genetischen Defekt. Zu dieser Vorstellung trägt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei, die die Rechenschwäche unter den Krankheiten auflistet. In der Konsequenz heißt das aber, dass manche nie werden rechnen können. Das ist bequem für die Schulen, denn die müssen sich dann nicht um diese Kinder kümmern.

Das ist aber nicht Ihre Ansicht.

Nein. Ich vertrete das Verstehens-Paradigma. Jeder kann rechnen lernen. Dyskalkulie tritt dann auf, wenn Grundschulkinder das Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren nicht verstanden haben. Dann muss es ihnen eben noch einmal erklärt werden. Denn in der Mathematik führt das mangelhafte Verständnis des vorangegangenen Stoffes fast notwendig zum Unverständnis des nachfolgenden. Wer das Teilen nicht verstanden hat, dem wird sich auch die Bruchrechnung, die Prozentrechnung und das Rechnen mit Kommazahlen nicht erschließen.

Wie muss man sich vorstellen, wie ein Kind mit Rechenschwäche rechnet?

Kinder mit Dyskalkulie rechnen zählend. Das bedeutet, wenn sie beispielsweise acht und fünf zusammenzählen sollen, dann zählen sie von acht weiter bis 13, immer eine Eins hinzufügend. Sie können nicht Zahlen zerlegen, also rechnen wie Kinder ohne Rechenschwäche. Die rechnen acht plus zwei plus drei, rechnen also erst auf zehn auf (auf die nächste Dezimale) und fügen drei hinzu. Das zählende Rechnen ist zudem sehr anstrengend. Sie müssen immer die erreichte Zahl im Kopf behalten und gleichzeitig wissen, wie oft sie noch eins dazuzählen müssen.

Aber das richtige Rechnen lässt sich diesen Kindern beibringen.

Am mathematischen Institut, an dem ich als freier Mitarbeiter tätig bin, fragen wir die Kinder, was sie sich beim Rechnen denken. Wie machen sie den Stellenübergang, also wie rechnen sie beim Addieren oder Subtrahieren über den Zehner?

Das mathematische Institut hat dazu einen Test entwickelt.

Ja. Mithilfe des Tests soll das genaue Fehlerprofil eines Schülers ermittelt werden. Dabei interessiert uns nicht, wie viele Aufgaben ein falsches oder richtiges Ergebnis haben, sondern wir wollen wissen, wie das Kind mathematisch denkt. Die Kinder rechnen laut und legen dadurch ihre Rechenschritte und – meist falschen – Rechenstrategien offen. Aufgrund der Ergebnisse des Tests wird dann eine spezielle Therapie ausgearbeitet. Dyskalkulie ist grundsätzlich überwindbar.

Einen Dyskalkulie-Test gibt es auch bei Ärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.

Aber dieser Test zeigt nur, wie gut – oder schlecht – ein Kind rechnet. Das weiß der Lehrer aber auch. Wichtig ist herauszufinden, was sich das Kind beim Rechnen denkt. Wer für sein Kind Geld für eine Therapie erhalten möchte, der muss aber diesen Test machen lassen. Denn Ämter erkennen nur den Test durch Ärzte oder Psychotherapeuten an.

Was empfehlen Lehrerinnen und Lehrer, wenn sich Kinder schwertun mit dem Rechnen?

Die empfehlen meistens, mehr zu üben oder Nachhilfe zu nehmen. Doch das ist größtenteils umsonst, weil es den von Rechenschwäche betroffenen Kindern nicht am Üben mangelt, sondern an mathematischem Verständnis.

Diskutiert wird auch über einen Nachteilsausgleich. Das bedeutet, dass Kinder mit Dyskalkulie weniger streng oder gar nicht benotet werden, ähnlich dem Verfahren bei Schülern mit Legasthenie. Wäre das eine Hilfe?

Meiner Einschätzung nach führt das zur Stigmatisierung der betroffenen Kinder. Das behindert ihre Inklusion und drängt sie in wenig attraktive Berufe. Hilfreich wäre es nur, wenn rechenschwache Schüler unterstützt würden. Dann könnte eine Notenaussetzung so lange sinnvoll sein, bis sie den Anschluss an ihre Altersgruppe geschafft haben.

Was müsste sich an den Schulen ändern, damit es weniger Kinder mit Rechenschwäche gibt?

Es müsste an den Schulen den Willen geben, dass jedes Kind rechnen können soll. Das geht, wie man an anderen Staaten sieht. Vielleicht gibt es ein paar Kinder, die es wirklich nicht lernen können, aber das sind bestimmt weniger als eines pro Klasse, wie das im Durchschnitt in Deutschland der Fall ist.

(Im Schuljahr 2021/22 lag die durchschnittliche Schülerzahl pro Grundschulklasse in Deutschland bei 20,9. Nimmt man die TIMSS-Zahl von 4,4 Prozent der Viertklässler, die nur schlecht rechnen können, ergibt sich, dass unter 22,7 Kindern ein rechenschwaches ist, also pro Klasse fast eines; Anmerkung der Redaktion).

„Rechnen und Mathematik: Schlechte Noten – Was tun?“, Vortrag von Bernhard Ufholz, Volkshochschule am Niederbronnerweg 5, Fürstenfeldbruck, Donnerstag, 23. November, 18.45 bis 21.15 Uhr, Teilnahmegebühr 14 Euro.

„Kinder mit Dyskalkulie rechnen zählend.“

„Wir wollen wissen, wie das Kind mathematisch denkt.“

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© Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content

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